»Seele ist, warum ein Vogel singt«

Ralf Rothmann erzählt vom Ende einer Kindheit - und vom Leben überhaupt

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.
Auch ohne das Zitat auf dem Buchumschlag hätte ich den Roman gelesen. Weil ich Früheres von Ralf Rothmann kenne und weiß, wie Worte sich bei ihm wundersam verwandeln in Szenen, die einem vor Augen stehen bleiben. Aber dieser Satz auf dem Buchumschlag hielt mich erst einmal für eine Weile fest: »Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.« » kann dir gar nichts passieren« - was für eine Zusicherung! Man hält sich daran fest und weist sie zurück. Du weißt doch: Alles kann passieren, in jedem Moment. Es trifft dich ein Stein, und du fällst um. Auch davon ist in diesem Roman die Rede. Aber die meiste Zeit wird aus der Sicht des zwölfjährigen Julian erzählt, der durch den Satz von der Freiheit in einem sehr traurigen Moment Tröstung erfährt. Geschichte vom Ende einer Kindheit: Sie spielt, wie schon frühere Texte Ralf Rothmanns, dort, wo er selber aufgewachsen ist. Im Ruhrgebiet, wo Anfang der 60er Jahre das Leben für viele so dürftig war wie es für viele vielleicht wieder werden wird. Kein Geld zum Verreisen und kurz vor dem Lohntag nichts mehr im Kühlschrank. Margarinebrote. Ein anderes Bild vom Westen, als man es im Osten hegte. Wenn die Mutter kein Geld hat, muss der Junge Einkaufen gehen. Bitte anschreiben, flüstert Julian, und die Ladenbesitzerin fordert ihn auf, lauter zu sprechen. So hören es alle. Und keine Umarmung zu Haus, kein gutes Wort. Nicht von den Eltern, aber wenigstens von der Schwester. Sophie ist freilich noch klein. Der Lehrer schlägt Julian mit dem Lineal so auf die Hände, dass er noch Tage lang verpflastert herumlaufen muss. Und die Mutter drischt auf seinem Hintern den Kochlöffel kaputt. Gierig saugt sie an ihrer Zigarette. Krank fühlt sie sich, und der Arzt sagt: Es sind die Nerven. Der Vater: Für einen Moment sieht man eine eintätowierte Zahl auf seinem Arm. Kommt müde aus dem Kohlenschacht, schläft und geht wieder hin. Die anderen Jungs, die Julian für Freunde halten will: Sie klauen ihm das Rad, aber er hat sein Ehrenwort gegeben, dass ers dem Vater zu Schichtbeginn wiederbringt. Sie übergießen den Hund mit Benzin und hätten ihn beinahe angezündet Sommerabenteuer könnte man so was nennen, wenn es lustiger wäre. Die Mutter fährt mit Sophie zur Oma nach Schleswig. Julian muss beim Vater bleiben, der keinen Urlaub bekommt, außerdem würde er schon den halben Preis im Zug kosten. Aber da ist noch Marusha, 15-jährige Tochter des Hausbesitzers. Von ihrem Zimmer kann man auf den Balkon der Familie klettern. Man sieht ihre Brüste durch ihre Bluse, und sie fragt Julian, ob er schon mal geküsst hat. - Aber nein, es wird keine romantische Geschichte daraus. Eher eine traurige, nachdem der Vater gesehen wurde, wie er nachts aus Marushas Fenster stieg. Tristesse und Lieblosigkeit. Wie gelingt es nur, dass dieses Buch einen nicht niederdrückt? Liegt es daran, dass sich Julian nicht niederdrücken lässt? Aber wie macht er das angesichts dessen, was ihm widerfährt? Vielleicht, indem er sich die Missgunst, die Bosheit gar nicht ganz als solche zu Bewusstsein bringt und sie dadurch abprallen lässt. Vielleicht, weil er das Unrecht bei sich enden lässt, ohne das zu wissen. Vielleicht ist es gerade seine Stärke, dass er so gar nicht schlagfertig ist. Aber da wird nichts erklärt; man sieht es nur: Wie ein Ich niedergedrückt wird und sich aufrichtet. Immer wieder. Der Vater erzählt gern die Geschichte von Julian, als er gerade mal laufen konnte und zu einer gefährlich wilden Stute ins Gatter stieg. Die sich von ihm streicheln ließ, der er kaum auf seinen Beinchen stehen konnte. »Und dabei sagt er immer: "Ei, Luna, ei! Und ist ganz selig ... Ich glaub, an dem Tag hast du zum ersten Mal richtig Dresche gekriegt, oder?" "Ja?" Ich ging voraus, haschte nach einer Mücke. "Kann sein. Ich erinnere mich doch nicht."« Der Pfarrer lässt ihn aus der Bibel lesen: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.« Das ist ja die allgemeine Ansicht: dass alles an der Prägung liegt, an den Umständen. Mit der frühkindlichen Entwicklung wird jede Entgleisung erklärt und entschuldigt. Dem wird hier widersprochen, auf eine leise Weise. »Wohin du auch gehst, du bist immer auf der Welt, mein Junge!«, sagt der alte Pomrehn, der nach dem Tod seiner Frau recht verwahrlost in seiner Bude haust (meinen die Leute). Und er fügt jenen Satz hinzu, der tatsächlich durch das ganze Buch klingt: »Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.« Wenn du dich entschieden hast Dass ich nicht erklären kann, was da in mir widerhallt, gehört zur starken Wirkung dieses Romans. So wie es Julian geht, als er im Fernsehen einen Schriftsteller sieht, dessen Name nicht fällt, den der Leser aber als Heinrich Böll erkennen wird. Der Junge versteht kein Wort von dem, was der Mann sagt, schaut ihm aber fasziniert ins Gesicht. Lange blieb ihm eine Formulierung im Ohr: »Stille Feiung«. Er wusste nicht, was das bedeutete, aber ihm gefiel der Klang. Etwas Tröstliches war darin gewesen. Etwas Tröstliches teilt sich auch bei Ralf Rothmann mit, aber nicht auf die billige, verlogene Weise, wie es manche Unterhaltungsromane tun. Indem er in sich hineinhorcht, kann der Leser versuchen, mit dem Autor auf eine Wellenlänge zu kommen. Rätselhaft erscheint zu Beginn ein zweiter Handlungsstrang: Ein Mann im Schacht, offenbar ganz allein. Mit Bedacht geht er zu Werke; er ist erfahren, er weiß, was er tut (da ist der Autor auch auf sein Fachwissen stolz), er ist ohne Furcht, er hat ein Ziel. Für einen Moment kam mir der Gedanke, es könnte Julians Vater sein. Aber es ist wohl eine Parabel auf das Leben, wie es ein Erwachsener zu meistern versteht, das Leben, das unversehens enden kann: »Du hörst ihn nicht, den Stein, der dich trifft ...« Und der wunderbare Romantitel, »Junges Licht«, findet seine Entsprechung in Salzkristallen auf der Kohle. Aber eigentlich ist damit ja die Seele gemeint, die Seele eines Kindes, die auch später jung bleiben kann, wenn der Mensch es so will oder wenn er das Glück hat, wer weiß. »Was ist denn überhaupt eine Seele«, fragt Julian. »Mein lieber Junge, sei nicht so dumm, ja?«, antwortet ihm die kleine Sophie. »Das weiß...

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